07.-08.09.2023

Der Verkehrsunfall
Robert Musil (1930)
Die beiden Menschen, die eine breite, belebte Straße hinaufgingen, gehörten ersichtlich einer be-
vorzugten Gesellschaftsschicht an, waren vornehm in Kleidung, Haltung und in der Art, wie sie
miteinander sprachen, trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche
gestickt, und ebenso, das heißt nicht nach außen gekehrt, wohl aber in der feinen Unterwäsche
ihres Bewusstseins, wussten sie, wer sie seien und dass sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt
auf ihrem Platze befanden.
Diese beiden hielten nun plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich einen Auflauf bemerkten.
Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Rei-he gesprungen, eine querschlagende Be-
wegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwa-
gen war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Bordschwelle, gestrandet dastand.
Wie die Bienen um das Flugloch hatten sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt,
den sie in ihrer Mitte freiließen.
Von seinem Wagen herabgekommen, stand der Lenker darin, grau wie Packpapier, und erklärte
mit großen Gebärden den Unglücksfall. Die Blicke der Hinzukommenden richteten sich auf ihn
und sanken dann vorsichtig in die Tiefe des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag, an die
Schwelle des Gehsteigs gebettet hatte. Er war durch seine eigene Unachtsamkeit zu Schaden ge-
kommen, wie allgemein zugegeben wurde. Abwechselnd knieten Leute bei ihm nieder, um etwas
mit ihm anzufangen; man öffnete seinen Rock und schloss ihn wieder, man versuchte ihn aufzu-
richten oder im Gegenteil, ihn wieder hinzulegen; eigentlich wollte niemand etwas anderes damit,
als die Zeit ausfüllen, bis mit der Rettungsgesellschaft sachkundige und befugte Hilfe käme.
Auch die Dame und ihr Begleiter waren herangetreten und hatten, über Köpfe und gebeugte Rü-
cken hinweg, den Daliegenden betrachtet. Dann traten sie zurück und zögerten. Die Dame fühlte
etwas Unangenehmes in der Herz-Magen-Grube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es
war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl. Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr:
„Diese schweren Lastwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.“
Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte
dieses Wort wohl schon manchmal gehört, aber sie wusste nicht, was ein Brems-weg sei, und
wollte es auch nicht wissen; es genügte ihr, dass damit dieser grässliche Vorfall in irgendeine Ord-
nung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar
anging.
Man hörte auch schon die Pfeife des Rettungswagens schrillen, und die Schnelligkeit seines Ein-
treffens erfüllte alle Wartenden mit Genugtuung. Bewundernswert sind diese sozialen Einrich-
tungen. Man hob den Verunglückten auf eine Tragbahre und schob ihn mit dieser in den Wagen.
Männer in einer Art Uniform waren bemüht, und das Innere des Fuhrwerks, das der Blick er-
haschte, sah so sauber und regelmäßig wie ein Krankensaal aus. Man ging fast mit dem berechtig-
ten Eindruck davon, dass sich ein gesetzliches und ordnungsgemäßes Ereignis vollzogen habe.
„Nach den amerikanischen Statistiken“, so bemerkte der Herr, „werden dort jährlich durch Autos
190 000 Personen getötet und 450 000 verletzt.“
„Meinen Sie, dass er tot ist?“ fragte seine Begleiterin und hatte noch immer das unberechtigte
Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben. „Ich hoffe, er lebt“, sagte der Herr. „Als man ihn in den
Wagen hob, sah es ganz so aus.“
(aus: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg: Rowohlt-Verlag, 5. Aufl. 1960, S.
10f.)

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